„Die Freiheit der Person ist unverletzlich“ – Karlsruhe, die Ausgangssperren und ein opulentes Mittagessen
Manchen gefällt die Karlsruher Entscheidung, manchen gefällt sie nicht. Und dass man als Prozessanwalt nicht erfreut ist, wenn man ein solches Verfahren verliert, versteht sich von selbst. An einer Passage bleiben wir jedenfalls immer wieder hängen. Vielleicht liegt es an uns. Aber wir verstehe die Argumentation zu Art. 2 Abs. 2 Satz 3 und Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG nicht. Vielleicht kann uns jemand helfen. Da es keine mündliche Verhandlung gab, konnten wir die Karlsruher Richter ja auch nicht um Erläuterung fragen.
Freiheitsbeschränkungen - nur "auf Grund eines Gesetzes"
Nach Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG darf die persönliche Freiheit (die Fortbewegungsfreiheit) „nur auf Grund eines Gesetzes“ beschränkt werden. Auch Art. 104 Abs. 1 GG erlaubt Freiheitsbeschränkungen nur „auf Grund eines förmlichen Gesetzes“. Anders als andere Grundrechte gibt es keine Befugnisse zu Freiheitsbeschränkungen „durch Gesetz“. Dies wurde in der Vergangenheit stets so verstanden, dass man Freiheitsbeschränkungen nicht einfach per Gesetz beschließen kann. Es bedürfe vielmehr stets eines Vollzugsakts – einer Entscheidung im Einzelfall, wenn man die Fortbewegungsfreiheit von Bürgerinnen und Bürger einschränken möchte:
„Die Formulierung ‚auf Grund‘ schließt Eingriffe unmittelbar durch Gesetz aus. Anders als beispielsweise in Art. 14 Abs. 3 Satz 2 GG fehlt hier nämlich der Vorbehalt des Eingriffs durch Gesetz.“
(Di Fabio in Maunz/Dürig, GG, Stand August 2020, Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Rn. 41)
Der Parlamentarische Rat 1948/49
Warum dieses Erschwernis von Freiheitsbeschränkungen? Das Grundgesetz wurde 1948/49 im Parlamentarischen Rat behandelt, die Erinnerung an die Nazizeit war frisch. Und die frische Erinnerung erklärt den feierlichen Satz, den man in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG findet:
"Die Freiheit der Person ist unverletzlich.“
Dies legt den Schluss nahe, dass man die Freiheit der Person als besonders hohes Gut ansah und aus diesem Grund dem Gesetzgeber nicht die Möglichkeit geben wollte, durch ein einfaches Gesetz einer Vielzahl von Menschen die Freiheit der Fortbewegung zu nehmen. Flächendeckende Ausgangssperren per Gesetz? Unmöglich.
Was sagt Karlsruhe?
Das BVerfG meint zwar, dass Ausgangssperren einen Eingriff in die Fortbewegungsfreiheit darstellen (Art. 2 Abs. 2 Satz 3 und 104 Abs. 1 Satz 1 GG). Allerdings könne ein solcher Eingriff auch durch den Gesetzgeber angeordnet werden (heutiger Beschluss, Rn. 268 ff.).
Wortlaut: Unter Rn. 269 befasst sich Karlsruhe sehr kurz mit dem Wortlaut des Grundgesetzes und meint, die Formulierung „durch Gesetz“ schließe Eingriffe „auf Grund eines Gesetzes“ nicht zwingend aus. Dass dies in der Kommentarliteratur (u.a. von dem ehemaligen Bundesverfassungsrichter Di Fabio, s.o.) durchgängig anders gesehen wird, lässt das BVerfG unerwähnt.
Die einzige Begründung, die das BVerfG für sein überraschendes Verständnis des Wortlauts liefert, ist ein Querverweis zu seiner Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherung aus dem Jahre 2010. Auch Eingriffe in das Fernmeldegeheimnis seien nach Art. 10 Art. 2 Satz 1 GG nur „auf Grund eines Gesetzes“ zulässig, die Vorratsdatenspeicherung wurde von Karlsruhe jedoch grundsätzlich gebilligt.
In der 2010er-Entscheidung sucht man eine eingehende Auseinandersetzung mit dem Wortlaut des Art. 10 Abs. 1 Satz 2 GG vergeblich. Vielleicht kein Wunder, denn das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung greift nicht unmittelbar in Art. 10 GG ein, sondern verpflichtet und ermächtigt Telekommunikationsanbietern zu solchen Eingriffen. Dass dies nicht dasselbe ist, lässt sich jedenfalls daran ablesen, dass Telekommunikationsunternehmen bei den Verwaltungsgerichten gegen diese Verpflichtung geklagt haben und demnächst eine Entscheidung des EuGH zu diesen Verfahren zu erwarten ist.
Entstehungsgeschichte: Unter Rn. 270 befasst sich Karlsruhe mit der Entstehungsgeschichte des Art. 2 Abs. 2 Satz 3 und 104 Abs. 1 Satz 1 GG. Dabei fragt sich Karlsruhe allerdings nicht, wie es zu dem feierlichen Satz von der „Unverletzlichkeit“ der Freiheit in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gekommen sein mag. Stattdessen behauptet das BVerfG, den Begrifflichkeiten sei keine unterscheidungskräftige Bedeutung beizumessen:
„Es fehlte an einem System der verschiedenen Schrankenregelungen in dem Sinne, dass Gehalt und Wirkungen des Verfassungstextes bei gleicher sprachlicher Fassung jeweils gleich zu verstehen wären und umgekehrt.“
Dies ist weniger ein Argument der historischen Auslegung als ein weiteres Wortlautargument in anderem Gewand. Vielleicht könnte man es auch als einen Versuch der systematischen Auslegung verstehen mit indifferentem Ergebnis. Denn letztlich beschränkt sich das Argument auf die These, der Wortlaut der Normen gebe für deren Auslegung nichts her.
Teleologische Auslegung: Unter Rn. 271 und 272 folgen teleologische Überlegungen, die schwer verständlich sind. Sind Ausführungen schwer verständlich, kann dies immer zwei Gründe haben – entweder liegt es am Leser oder an einem unsortierten Gedankengang. Jedenfalls enden die Ausführungen mit dem Satz:
„Teleologische Gründe sprechen daher bei einem erweiterten Eingriffsverständnis dagegen, die Schrankenregelungen in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 und Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG kompetenziell als Verwaltungsvorbehalt auszulegen.“
Auch diesen Satz muss man mindestens zweimal lesen, damit man ihn auch nur halbwegs versteht. Karlsruhe möchte aus dem Sinn und Zweck der Formulierung „auf Grund eines Gesetzes“ ableiten, dass diese Formulierung keineswegs beim Wort zu nehmen ist und die unmittelbare Anordnung von Freiheitsbeschränkungen „durch Gesetz“ ausschließt. Der Sache nach bedeutet dies eine teleologische Reduktion der in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 und 104 Abs. 1 Satz 1 GG formulierten Schranke, wenn nicht gar eine teleologische Reduktion der in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 und 104 Abs. 1 Satz 1 GG verbrieften Freiheitsgewähr.
Was die Ausführungen vor dem letzten Satz der Rn. 272 (in Rn. 271 und 272) angeht: Wir haben heute mehrfach gemeinsam versucht, die Argumente und den Gedankengang zu verstehen. Wir sind gescheitert. Wer uns diesen Gedankengang in verständlichem Deutsch erklären kann, hat ein opulentes Mittag(!)essen verdient, sobald die Restaurants wieder geöffnet sind. Versprochen.